Heimat- und Geschichtsverein Schloßborn e.V.

Artikel Le Temps 1. AbschnittWir schreiben das Jahr 1919. Der Kamerad eines Schloßborner Kriegsgefangenen entdeckt in der Ausgabe der Le Temps vom 21. Januar einen Artikel über Schloßborn und schickt diesen übersetzt und in einen handschriftlichen Brief übertragen in die Heimat. 

105 Jahre später wird dieser Brief von den Nachfahren des ehemaligen Bürgermeisters Marx wiederentdeckt und an den Geschichtsverein übergeben. Der Brief ist ein kleiner Quellenschatz, der einen spannenden Einblick in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg gibt. Besonders im Zusammenspiel mit der Marxschen Chronik ist der Leser zum Deuten und Interpretieren eingeladen.

Christoph Klomann hat den Brief nun so aufbereitet, dass Sie diesen hier vollständig lesen können. Viel Vergnügen!

 

"Bei den preußischen Bauern                                           
- In den Taunusbergen, Januar 1919 - 

Auf dem rechten Rheinufer, parallel dem Rhein und der Linie Mainz-Frankfurt, zieht sich von Südwesten nach Nordosten die Taunuskette: Ein malerischer, bewaldeter Höhenzug, der von Tälern durchschnitten wird, durch die Serpentinenstraßen und kleine Flüsse in die mit Fabriken bedeckte Ebene hinabführen. Wenn man bei Höchst, einem Standort der chemischen Industrie, die Hauptstraße, die von Mainz nach Frankfurt führt, verlässt, erreicht man alsbald die Südhänge des Taunus; mehr nördlich, in 400 und einige Metern Höhe, gelangt man nach Königstein, das die deutschen Hygieniker als Luftkurort empfehlen; und weiter noch quer durch die Taunuskette entdeckt man plötzlich mitten in einem Talkessel ein ländliches einsames Dorf, sauber und wohlhabend: Schloßborn d.h. die Schloßquelle. Ich habe hier Halt gemacht. Seit 3 Tagen irrte ich zwischen Homburg und Wiesbaden in dem von unseren Soldaten besetzten Preußen einher auf der Suche nach einem ländlichen Winkel, bewohnt von echten Bauern und nicht von einer Bevölkerung, die sich zusammensetzt aus Landarbeitern und Arbeitern der nahen Fabriken, wo ich nach Belieben und aus allernächster Nähe die Spuren des zu Ende gehenden Krieges und die Symptome der beginnenden Revolution betrachten konnte.

Es ist ein reizendes Stück Land, Schloßborn. Das wissen die Touristen sehr gut, die vor dem Kriege im Auto, zu Rad oder zu Fuß mit dem Rucksack auf dem Rücken und dem Stock in der Hand kamen, um den Schatten und die kühlende Frische seiner Buchen- und Fichtenwälder zu genießen, um zu kosten die Forellen des Pfiffer- und des Silberbachs, um den örtlichen Apfelwein zu versuchen, der mich angenehm erinnert an unseren Cidre der Normandie, um die reine Luft zu atmen, die die Nordwinde von den Höhen gegen die Frankfurter Ebene wehen. Selbst zur gegenwärtigen Stunde, trotz des Krieges, erscheint das Feld sorgfältig kultiviert und gepflegt wie ein Park; die bestellten Felder stoßen in Rechtecken aneinander; die Hecken sind wie mit der Schnur geschnitten; und Sie würden kein Leck in den Bewässerungsgräben finden, die die Wiesen am Ufer der Bäche durchziehen. Natürlich, es ist ein Land mit Kleinbesitz, wo ein jeder stolz sein kann beim Anblick seines Anwesens, wo kein Fußbreit Land dem Brombeergestrüpp überlassen wird, und ich begreife wohl, weshalb man dieses Land „die Touraine Deutschlands“ nennt.

Unterwegs halten mich die Bewohner auf mit Redensarten und legen Freude an den Tag, sich mit einem französischen Offizier unterhalten zu können, der plötzlich in einer Ecke des Waldes erschienen ist.

Und so bin ich bald unterrichtet über diese Gegend, wo das Leben angenehm und mühelos sein muss, wie sein Horizont und sein Boden; eine Gegend mit Kleinkultur und Kleinbesitz; jede Familie im Besitz eines behaglichen, bisweilen eleganten Hauses mit einem halbdutzend Hektar, die sie bebaut mit Roggen, Hafer, Weizen, Gerste, Kartoffeln, Futtermitteln, Apfelbäumen; drei bis vier Kinder fallen auf jede Familie; mit einem Stück Vieh im Stall, von dem man Milch und Butter zieht für die Station Königstein und ein Stück Mastvieh pro Jahr für die Schlachterei; an Schweinen besitzt man 360 Stück zu normaler Zeit; Geflügel in allen Winkeln; im Walde Wild in Menge, Fasanen, Hasen, Rehe, Hirsche und selbst wilde Schafe (Mufflons), die die Forstverwaltung seit ungefähr 12 Jahren zwischen Homburg und Idstein ansiedelt. Ich weiß wohl, dass die ganze Jagd wohl behütet ist, so dass die Eingeborenen sich nicht an dem Wildbret vergreifen können; der Feldhüter selbst, der zu gleicher Zeit Jagdaufseher ist, hat mir versichert, nicht zu wissen, was eine Schlinge sei. Aber in Schloßborn bringt man öfters einen Hasen oder irgendein anderes Wildbret auf den Familientisch; und selbst auf den der Wirtschaft. Ich kenne Zeugen für derartige Fälle.

Am Ausgang des Dorfes hat mir der Briefträger, ein pünktlicher Mann, versichert, dass Schloßborn gegenwärtig 627 Einwohner zähle, darunter höchstens zehn Fabrikarbeiter von Frankfurt oder Höchst.

Das sind, sagte er mir, Sozialisten, aber nicht die schlimmsten. Sie sind selbst nicht radikal!

Dann führte er mich ein beim Bürgermeister oder genauer gesagt in das helle Zimmer, wo Herr Max [Marx], Bürgermeister von Schloßborn, Milch requirierte für die in der Umgegend sich lagernden französischen Soldaten. Bürgermeister Max [Marx] ist ein ziemlich behäbiger Dorfbauer von 37 ½ Jahren, Vater von 2 Kindern. Er kommt zurück aus dem Kriege und hat gedient als Gefreiter in der Infanterie; hat in Serbien und Frankreich gekämpft, hat eine Kugel ins Bein erhalten bei Ville-sur-Tourbe, in der Champagne, und ist endlich entlassen, da man nur die Jahresklassen 1916, 1917, 1918 und 1919 unter den Fahnen gehalten hat. Von verhältnismäßig kleiner Gestalt, hat er sich auf der einen Seite des Tisches aufgerichtet, um mir seine Aufwartung zu machen, während auf der anderen Seite, ein großer magerer Teufel wie ein Nagel, das lange Gesicht durch eine hagere Nase geteilt, in der Hand eine bronzene Schelle, seine Verbeugungen machte. Dieses war der Polizeidiener, bedeckt mit einer Schirmmütze, die seine ganze Uniform bildet, an den Füßen trägt er Stiefel.

Die Unterhaltung hat begonnen mit einer Szene ohne Banalität. Da ich einen Mangel an Lebensmitteln in diesem Dorf befürchtete, äußerte ich Bedenken hinsichtlich meines Mittagessens.

-Nichts war leichter zu haben als das: „Was wollen Sie essen? Ein Hühnchen?“

Ich war nicht gefasst auf ein derartiges Anerbieten. Ich antwortete: „Ja“, ohne große Hoffnung. Alsbald durchblättert der Bürgermeister ein großes Register, sein Blick bleibt haften auf einer Seite, schreibt einige Worte auf ein Stück Papier und übergibt es dem Manne mit der Schelle mit den Worten: „Bestellen sie für den Herrn Leutnant ein Mittagessen!“ Als der Polizeidiener verschwunden ist, erklärt er mir: „Der Hotelbesitzer hat keine Hühner. Das Geflügel ist offiziell abgezählt. Ich schicke zum Wirt einen Schein, um ein Huhn zu kaufen bei Frau Frankenbach, die in mein Register eingetragen ist als Besitzerin von elf. Ich habe die Hühner von Frau Frankenbach gesehen. Sie sind prächtig. Sie werden zufrieden sein.“

Ich werde gleich auf dieses Mittagessen zurückkommen, denn in diesem Lande und unter den gegenwärtigen Verhältnissen, erscheint mir nicht zu unbedeutend, es zu berichten. Aber vorläufig verweile ich, da es sich um einen Bürgermeister handelt, bei ernsten Fragen.

Zuerst sprechen wir vom Kriege. Hier das militärische Ergebnis für Schloßborn: mobilisiert: 120, tot oder vermisst: 19, verstümmelt: 1, gefangen: 14, wohlbehalten zurückgekehrt oder von der Verwundung genesen: 72, noch unter den Fahnen: 14.

„Hier, fährt der Bürgermeister fort, hat die Bevölkerung, die fast ausschließlich ländlich ist, verhältnismäßig wenig gelitten. Es hat zwar einige Einschränkungen gegeben, aber jede Familie wusste den Kontrolleuren genügend Lebensmittel zu verbergen, um weiter ein gutes Leben zu führen. Der Bauer ist tückischer als andere. Unser Schweinebestand ist am schlimmsten mitgenommen.  Er ist während des Krieges nur von 360 auf 250 Stück gefallen. Gegenwärtig gibt es nur noch 90 Stück im Dorfe, aber das liegt daran, dass das Recht über Abschlachtung am 31. Dezember abgelaufen ist und man sich am Schluss des Jahres, um Reserven zu haben, wahre Hekatomben [Tieropfer in großer Zahl] gestattet hat.“

„Wann hat man begonnen, am Siege zu zweifeln?“

„Im Verlaufe von 1916. Nur war es untersagt, Zweifel dieser Art auszusprechen. Die Soldaten, die in Urlaub kamen, teilten ihre Befürchtungen nur ihren Familien mit. Später, als man wusste, welche Zahl von Feinden sich gegen Deutschland erhob, hat man gedacht, dass unsere Diplomaten ihrer Aufgabe nicht gewachsen gewesen wären und dass vielleicht der Krieg Deutschland nicht aufgezwungen worden wäre. Jetzt glaube ich, dass unsere Feinde, Frankreich z.B., nicht unschuldig in dieser Angelegenheit sind, aber ich sehe andererseits große Verantwortung auf unserer Regierung lasten.“

„Welches sind die Gefühle gewesen, die die Bevölkerung hegte, als sie erfuhr, dass Deutschland geschlagen sei; dann, dass die Franzosen das Land besetzen würden?“

„Zuerst, war es, als wenn man einen Hammerschlag auf den Kopf bekommen hätte. Dann, als sie [die Besatzer] gekommen sind, haben die Leute begonnen, gegen die Regierung zu protestieren. Aber wir, die wir den Krieg mitgemacht hatten, wir haben ihnen gesagt: Wenn ihr wüsstet, wie sich die deutsche Armee unter dem preußischen Druck in Frankreich betragen hat, würdet ihr euch glücklich schätzen, dass die Dinge so gekommen sind. Ich sage Ihnen dieses alles, ich, Bürgermeister von Schloßborn, wie ich es denke. Ich bin ein Mann der Ordnung, ein Bauer, der jeden Schaden, der nutzlos an Dingen verübt wird verdammt, besonders den an Ländereien. Ich stelle die Meinung dieses Dorfes dar, wo jeder, mit vielleicht 5 oder 6 Ausnahmen, politisch dem katholischen Zentrum angehört. Ich füge noch hinzu, dass ich schon lange meine Untergebenen kenne, denn außer 2 oder 3 jungen Leuten, die von Zeit zu Zeit auswandern um in einer großen Stadt Handel zu treiben, leben und sterben alle in ihrem Geburtsdorfe.“

Die zeitliche Folge der Ereignisse führte in dieser Unterhaltung ganz natürlich vom Kriege zur Revolution.

In den Augen des Bürgermeisters von Schloßborn, ist die Revolution ein „neues Unglück“ für Deutschland, weniger infolge der eventuellen Folgen vom innenpolitischen Standpunkt aus, als infolge der unmittelbaren Folgen bezüglich des Friedens: „Wenn sie nicht ausgebrochen wäre, wenn Deutschland und seine Armee intakt geblieben wären, würden die Alliierten weniger harte Waffenstillstandsbedingungen aufgelegt haben, und wahrscheinlich weniger harte Friedensbedingungen. Wenn die Armee diszipliniert geblieben wäre und auf Aufhebung der Feindseligkeiten gedrungen hätte, würde sie sich mit dem Feinde verglichen haben. Jetzt ist es zu spät. Und einmal mehr fällt auf Preußen die Verantwortlichkeit.“

„Wirklich, bemerkte ich, Preußen besitzt hier keinen besseren Ruf als bei den Alliierten?“

„Nichts ist richtiger, fährt der Bürgermeister erregt fort. Wir gehören zur preußischen Provinz Hessen-Nassau. Aber glauben Sie, dass wir vergessen haben, dass unser Land die Unabhängigkeit kannte und sie noch kennen würde, wenn Preußen es nicht 1866 annektiert hätte? Darüber braucht man nur die alten Leute zu fragen.“

„Welchen Zustand der Dinge, glauben Sie, wird die Revolution in Deutschland herbeiführen?“

„Ich weiß darüber nichts. Hier folgen die Bauern nur von ferne den großen politischen Ereignissen. Am 19. werden wir abstimmen. Fast ganz Schloßborn wird, wie gewöhnlich, für das katholische Zentrum stimmen. Dann? Komme was kommen mag. Vielleicht wird eine mehr oder weniger große Trennung zwischen Nord und Süd eintreten. Wir verlangen nicht, von Deutschland losgetrennt zu werden, sondern frei zu werden vom preußischen Joche, vom preußischen Geiste, der uns die ganze Welt zum Feinde gemacht hat. Wir sind friedliche Bauern!“

Hier mache ich eine Parenthese und spiele an auf die jüngsten Ereignisse, die bedeutende Punkte Berlins in die Hände der Bolschewisten hinübergespielt haben. Plötzlich überkommt den Bürgermeister ein Frösteln:

„Ah! Nicht das! Besonders kein Bolschewismus hier!“ Zum ersten Mal blickt er mich stark von vorn an und fügt hinzu: „Nun, Sie sind hier, um uns zu beschützen, denke ich. Was sollte aus uns werden? Außerdem haben die französische Regierung und seine Alliierten kein Interesse, dass die Wahlen korrekt stattfinden und dass die konstituierende Versammlung Deutschland eine Regierung gebe, die fähig ist, über den Frieden zu verhandeln?“

Ich habe die letzten Worte des Bürgermeisters getreu wiedergegeben, darauf habe ich meine Gefährten wieder angetroffen in der Wirtschaft, wo der Polizeidiener Paul unser Essen bestellt und in eigener Person die Vorbereitungen überwacht hatte. Ein weißes Tischtuch, weiße Servietten, in wahrem Leinen, Cidres Flaschen, vergoldet durch die Sonne.

Menu:

Gemüsesuppe – Blutwurst mit Butter – Leberwurst – Hühnerbraten – Kohl – Schweinebraten – Kartoffeln.

Alles in allem, für 5 Personen: 25 Mark. In Mainz hätte es 45 Mark gekostet.

Beim Nachtisch erscheint ein Arbeiter und lässt sich in einer Ecke ein Glas Cidre servieren. Es ist ein Pionier, in die Heimat zurückgekehrt seit dem 27. November. Er lässt sich in eine Unterhaltung ein mit dem Sohne des Wirtes, der verwundet wurde bei Verdun. Ich höre ihn laut sagen:

„Das ist unerträglich. Jeder wünscht, dass die Franzosen Frankfurt besetzen. Die Bewohner selber fordern es. Das kann nicht so weitergehen.“

Augenscheinlich sprach der neue Ankömmling so laut, um gehört zu werden. Aber ich habe es nicht für an der Zeit gehalten, direkte Erklärungen von diesem Unbekannten zu verlangen. Diejenigen des Bürgermeisters genügten mir; und ich werde mich wohl hüten, seine Meinung zu verallgemeinern und sie der ganzen Gegend zuzuschreiben.

Als ich Schloßborn verlassen habe, begann die Sonne am Horizont zu sinken und man hörte auf dem Lande nur die klagenden Töne des Hornes des Gemeindehirten, der die Schweine zusammenblies. Auf dem Rückwege, habe ich mich umgewandt um noch einmal die roten Dächer des Dorfes zu sehen inmitten von Wiesen. Dann habe ich im Geiste die Ruinen unserer unglücklichen französischen Dörfer gesehen, schwer mitgenommen durch den Krieg und ich dachte:

Welch starken Protest gegen Preußen habe ich soeben hier gehört, in diesem glücklichen und friedlichen Winkel der Erde. Gibt es nicht einer Klage Platz, die dort unten überall aufsteigt gegen die Barbaren! Und wie sollte die Gerechtigkeit nicht ihren Lauf nehmen!

Leutnant d´Entraygues"

Le Temps Artikel Ausschnitt1. Abschnitt des Le Temps-Artikels


Ausszug aus dem Brief 

 

Der Altbürgermeister Marx kommentierte den Brief - bevor dieser in den Unterlagen verschwand - mit folgender Notiz:

"Der in französischer Gefangenschaft befindlich gewesene Johann Peter Schmitt von hier [Schloßborn] wurde von einem Kameraden auf einen in dem französischen Blatt „Le Temps“ erschienenen Artikel aufmerksam gemacht. Auf die Bitte des P. Schmitt, übersetzte sein Kamerad ihm diesen Artikel und übergab ihm außerdem einen diesen Artikel enthaltenden Zeitungsausschnitt. Diesen Ausschnitt nebst der Übersetzung brachte Schmitt bei seiner Entlassung mit nach Hause und schenkte beides mir. Man erkennt ohne weiteres, dass der Artikel von Zeitungsreportern verfasst ist und begreift daher, dass manche Angaben stark übertrieben sind.                                                                                                                                                                          - Johann Friedrich Marx (Bürgermeister von Schloßborn)"

 

 

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